Ein Junge kommt geradewegs aus der Seite herausgeflogen. Er trägt eine Augenmaske, von seinen Schultern flattert ein Umhang über den Panelrand, unter ihm erstreckt sich in schräger Neigung ein Kornfeld. Lester, der auf einer Farm im kanadischen Essex County lebt und etwas einsam ist, schlüpft dann und wann in die Rolle eines Superhelden. Er ist der jüngste Spross einer Familie, deren Geschichte der kanadische Autor und Zeichner Jeff Lemire in den drei Bänden seiner auf Deutsch von 2010 bis 2012 erschienenen Comicreihe Essex County erzählt.
Lester steht im Zentrum des ersten Bandes Geschichten vom Land, zusammen mit dem Mann, bei dem er aufwächst, und seinem vermeintlichen Onkel Jimmy. Im zweiten, Geistergeschichten, geht es um die Brüder Vince und Lou Leboef, Lesters Urgroßvater und Urgroßonkel und ehemalige Eishockeyprofis. Der abschließende Band Die Krankenschwester schließlich widmet sich Anne Quenneville, die den greisen, verwirrten Lou pflegt - und auch die Geschichte von Lester, der Cape und Maske mittlweweile an einen Ast gehängt hat, wird weitergeführt. Lemire verknüpft Schicksale und Zeitebenen und spannt einen emotionsgeladenen Generationenbogen, der sich im Lauf der drei Bände erschließt - und zwar ohne dass dafür Erklärtexte nötig wären (abgesehen von »eingeschmuggelten« wie Briefen oder Notizen in Fotoalben).
Lemire nutzt Dialoge - vor allem aber seine Zeichnungen. Wenn Lou zum Beispiel in Erinnerungen abdriftet, lösen sich Bäume oder Gesichter Bild für Bild in abstrakte Linien und Formen auf, oder der alte Lou steht im Dunkeln und beobachtet Szenen aus seinem früheren Leben. Die expressiven, reduzierten Tuschezeichnungen und die zum Teil grafisch gestalteten Seiten kommen ohne Farbe voll zur Geltung. Nur ein Beispiel: Die zerzauste Krähe, die durch alle drei Bände flattert und am Ende als schwarze Silhouette vor dem Mond in die Nacht fliegt, das Schild hinter sich lassend: "Now leaving Essex County". [BB]
Jeff Lemire: Essex County 1-3, ÜS Thomas Schützinger, Edition 52, 112-228 S., 11-13 EUR.
Foto: © Edition 52/Jeff Lemire
Dieser Text ist erschienen im Bonner Stadtmagazin Schnüss, Ausgabe 09/2016