Die Schweizer Künstlerin Lika Nüssli nennt ihr großformatiges Kunstbuch Vergiss dich nicht eine Graphic Novel. Um einen grafischen Roman handelt es sich hier allerdings weniger. Sondern vielmehr um eine intime, liebevolle und poetisch-surreal angereicherte Schilderung von Eindrücken von einem Ort, der unpoetischer nicht sein könnte: einem Heim für Demenzkranke.
In einem solchen lebt Nüsslis Mutter und entgleitet mehr und mehr ins Vergessen. Die Tochter verbringt - gewappnet mit Block und Stift - viel Zeit in dem Heim. Sie zeichnet, wie die Pflegerinnen und Pfleger mit den dementen Männern und Frauen umgehen, wie ihre Mutter ihr Gebiss stets aufs Neue in einem Blumentopf versteckt, wie ein alter Mann auf die Toilette gebracht wird. Sie notiert Unterhaltungen, die zuweilen ins Absurde driften, oft auch komisch sind - und die deutsche Leserschaft vor die Herausforderung stellen, Schweizerdeutsch zu lesen.
Nüssli, die als bildende Künstlerin arbeitet, pflegt in Vergiss dich nicht einen eher malerischen Stil und erzählt assoziativ. Wer sich auf dieses Gleiten durch eine Welt des Vergessens einlässt, entdeckt schöne Verbindungen von Text und Bild: Etwa, wenn ein paar leere Stühle beieinander stehen und darüber Dialoge einer Unterhaltung stehen, in der es um Erinnerungen an eine schwierige Kindheit geht. Oder die ganzseitige Zeichnung einer Landschaft mit Hügeln, Kakteen und Lehmhütten, über der "Challo Awet?" steht - ein Ruf, der den angesprochenen Awet aus einer Träumerei an seine Heimat Eritrea zurück in die Gegenwart ruft, wo er als Pfleger im Heim arbeitet.
Dem Comic-Teil vorangestellt sind hellgrüne Seiten, auf denen Nüssli wie in einem Brief ihre Mutter direkt anspricht, Erinnerungen an sie beschreibt sowie Fragen formuliert, die nicht mehr zur Adressatin durchdringen. Ein schönes Buch für eine kleine Zielgruppe.
Lika Nüssli: Vergiss dich nicht, Vexer Verlag, 176 S., 35 EUR.
© Abbildung aus "Vergiss dich nicht" von Lika Nüssli, Vexer Verlag 2018
Dieser Text ist erschienen im Bonner Stadtmagazin Schnüss, Ausgabe 12/2018