Hoch oben in der Takelage eines Segelschiffs umklammert ein Mann einen Masten, Schweißtropfen perlen auf seinem Gesicht, zittrige Linien umspielen seinen Körper. Dann wird der Blickwinkel weiter, das Schiff liegt in dunklem Wasser, umgeben von Eisschollen und braun-grau verwaschenen Landmassen, darüber hellblauer Himmel. Grönland Vertigo ist der Titel dieses wunderschönen Comicabenteuers im arktischen Meer von Hervé Tanquerelle.
Ein Sprung einige Monate zurück führt ins französische Nantes, wo Georges Benoît-Jean (Markenzeichen: rotschwarz geringelter Pullover und Moustache) im warm getuschten Arbeitszimmer am Zeichentisch auf ein leeres Blatt Papier starrt und sich ausführlich in einer Schaffenskrise suhlt. Das "Ting!" einer eingehenden E-Mail ist der Auftakt zum Abenteuer: eine Einladung zu einer Grönland-Expedition an Bord der "Aurora", unter anderem mit dem Schriftsteller Jørn Freuchen, dessen arktische Erzählungen Georges als Comic gezeichnet hat.
Hauptsponsor der Reise ist der finnische "Gegenwartskünstler" Ville Hakkola, ein verbiestertes Männlein, der ein monumentales Werk als Mahnmal gegen die Zerstörung der Arktis errichten möchte. Bis der nur bedingt seetüchtige Georges in der Takelage landet, spielen sich skurrile Ereignisse ab, deren Höhepunkt die Bergung eines hundertjährigen Whisky-Schatzes in einer Trapperhütte bildet.
Tanquerelle, der wie Georges aus Nantes stammt und an einer ähnlichen Expedition teilgenommen hat, sagt, er habe sich in Sachen Comic-Erzählkunst an Hergé geschult. Mimik und Gestik der Figuren, Bewegungslinien sowie Typografie lassen in der Tat an den belgischen Vater von Tim und Struppi denken, ebenso wie einige Szenen. Doch während der schwarze Tuschestrich und die klaren Farben der Figuren noch als ligne claire durchgehen könnten, stehen die aquarellierten und von Isabelle Merlet mit magischem Licht versehenen Landschaften in reizvollem Kontrast dazu. [B.B.]
Hervé Tanquerelle: Grönland Vertigo, ÜS: Annika Wiesniewski, 104 S., Avant Verlag, 24,95 EUR.
© Abbildung aus "Groenland Vertigo" von Hervé Tanquerelle, Avant Verlag
Dieser Text ist erschienen im Bonner Stadtmagazin Schnüss, Ausgabe 11/2017