Seit 2012 zeichnet die Französin Anne Simon Comicgeschichten aus dem Königreich Marylène: in einem ausgeklügelten Fanzine-Stil mit feinen schwarzweißen Schraffuren, variantenreicher Seitenarchitektur und effektvollen Kontrasten. Die ausgesprochen diversen Bewohner:innen dieses phantastischen Landes tragen Schnäbel, Echsenköpfe oder Fischschuppen, es gibt Wassermänner, walzernde Pferde und eine Armee aus langbeinigen Fritten-Frauen.
Simons Marylène-Geschichten sind feministisch, politisch und philosophisch - und mit Humor gewürzt. Auf Deutsch erschien 2014 mit Das Tun und Lassen der Aglaé der erste Teil, die Ermächtigungsgeschichte der Wassernymphe Aglaé, in der sie den Tyrannen des Reiches stürzt und selbst die Macht ergreift. Darauf folgte mit Die Kaiserin Cixtite eine Art alternative Fortsetzung. Boris, das Kartoffelkind ist nun ein weiterer Teil, der an das Ende von Das Tun und Lassen der Aglaé anknüpft, aber ebenfalls Bezüge auf Die Kaiserin Cixtite nimmt.
Wir erinnern uns: Die Wassernymphe Aglaé wird ungewollt schwanger und daraufhin von ihrem Vater verstoßen. Sie ist entschlossen, ihr Kind allein zur Welt zu bringen, doch im Reich des misogynen Tyrannen von Krantz droht ledigen Müttern der Tod. Aglaé findet Zuflucht beim Zirkus von Direktor James Kite, willigt ihrer Sicherheit zuliebe ein, ihn zu heiraten, bringt Drillingstöchter zur Welt und lässt diese mehr oder weniger vom zirkuseigenen Walzerstar Henry the Horse großziehen. Schließlich stürzt sie den Tyrannen von Krantz mit Hilfe von dessen Privatsekretärin Simone. Aglaé wird neue Herrscherin in "Suffragette City". Sie krempelt Rollenmuster um und nimmt sich einen Liebhaber (ein in einem Erdloch verankertes Steinwesen).
Ergebnis dieser Liaison ist ein Sohn mit riesigem Kartoffelkopf - und seine Geburt löst aus, was Soziologinnen als "Backlash" bezeichnen würden: Das Kartoffelkind Boris übernimmt die Kontrolle über Aglaés Leben: Im dritten Marylène-Band ist aus der aufrechten, weit ausschreitenden Aglaé mit voluminösem, kunstvoll verknotetem Haar nach Boris‘ Verfügung "Luftblase" geworden, die mit gekrümmtem Rücken und brav gescheitelten Strähnen am Küchentisch sitzt und Berge von Kartoffeln schält, um ihrem Sohn Pommes zuzubereiten.
Boris bringt selbst gedrucktes Geld in der auf Tauschhandel basierenden Gesellschaft unters Volk und baut ein Imperium aus Fritten und Bier, mit denen er seine Untertanen gefügig macht. Da kann die kluge Simone nicht tatenlos zusehen… Schön, dass Anne Simon ihr und anderen Figuren aus Marylène weitere Comics gewidmet hat, die auf Französisch bereits erschienen sind.
Anne Simon: Boris, das Kartoffelkind, ÜS: Irène Bluche, 164 S., Rotopol Verlag, 18 EUR
Abbildung aus Boris, das Kartoffelkind von Anne Simon, © Rotopol Verlag
Dieser Text ist erschienen im Comic-Magazin STRAPAZIN, Ausgabe 147