Zwei dünne Beine mit Krallen ragen von links oben in das erste Bild hinein, während rechts unten ein Stück dunkler Hut über den Bildrand schaut. Im Bild steht: "Ein Osbick-Vogel zielte gut / Auf Emblus Fingbys runden Hut." Dieser pointierte Zweizeiler schildert den Beginn einer wunderbaren Freundschaft - und ist der Anfang eines wunderbaren kleinen Buches. In 14 Bildern und Zweizeilern - auf je einer Seite im Querformat - erzählt Edward Gorey die poetische, surreale und auch anrührende Geschichte eines neuenglischen, stets akkurat gekleideten Gentleman und dessen zugeflogenem Gefährten.
Edward St. John Gorey lebte 1925 bis 2000 an der Ostküste der USA, weit vor unserer aktuellen Corona-Zeit (und kurz nach der Spanischen Grippe). Aber doch trifft seine Erzählung Der Osbick-Vogel den Geist der Zeit, wie der Verlag mit der Zusendung des Rezensionsexemplars clever vermerkt. Ob zum Tee im Baumwipfel, beim erbitterten "Doppel-Solitaire" mit fliegenden Karten und anschließender Funkstille oder mit den jeweiligen Hobbys beschäftigt: Emblus Fingby und der langbeinige Osbick-Vogel (der nicht im Vogelführer steht) genügen einander in zweisamer Isolation.
Goreys fein schraffierte Tuschezeichnungen im Osbick-Vogel sind karikaturesk und spleenig. Fingbys Gehstock korrespondiert mit den extrem langen, dünnen Beinen des Vogels. Die Hintergründe sind stets weiß gehalten, umso detaillierter ist Fingbys Kleidung wiedergegeben: Auf jedem Bild trägt er einen anderen Anzug, Hausrock oder Mantel mit immer anderen Dessins, Streifen, Karos, florale Muster, Fischgrät oder Tweed zum Beispiel.
Und zum Ende der Geschichte schließt sich auch grafisch ein Kreis, weil das letzte Bild sozusagen den Inhalt des ersten spiegelt. Nicht zuletzt sind die knappen Reime der Geschichte neu und sehr fein übersetzt von Clemens J. Setz. Eine schöne (Wieder-)Entdeckung.
Edward Gorey: Der Osbick-Vogel, ÜS: Clemens J. Seitz, Lilienfeld Verlag, 32 S., 14 EUR
Abbildungen aus »Der Osbick-Vogel«, © Lilienfeld Verlag
Dieser Text ist erschienen im Bonner Stadtmagazin Schnüss, Ausgabe 06/2020